Raghu­bir Singh. Kolka­ta

9. Juli – 6. November 2022

Der indische Fotograf Raghubir Singh (1942– 1999) kehrte immer wieder nach Kolkata (bis 2001 Kalkutta) zurück und erstellte über die Jahre ein komplexes und vielschichtiges Fotoporträt der Metropole. Aufgewachsen in Jaipur, der Hauptstadt des indischen Bundesstaates Rajasthan, besuchte Singh Kolkata 1961 das erste Mal. In den frühen 1970er Jahren lebte er noch in Jaipur; danach verlegte er seinen Lebensmittelpunkt nach Hongkong und Paris; später lebte er in London und New York. Vor allem in seinen Straßenansichten verdichtet Singh die vielfachen Eindrücke Kolkatas in farblich und kompositorisch beeindruckenden Fotografien. Die Farbigkeit ist für Singh kennzeichnend für Geografie und Kultur Indiens. In seinen Fotografien wird mit ihrer Hilfe die Aufmerksamkeit über das ganze Bild verteilt, sodass Vorder- und Hintergrund häufig wie auf einer Ebene erscheinen. Die unterschiedlichen historischen Zeitschichten sind auf diese Weise in der Fotografie gleichermaßen vergegenwärtigt. Singhs Fotografien sind die Hommage eines Kosmopoliten an eine kosmopolitische Stadt.

Im Fotoraum präsentiert das Museum Ludwig erstmals zwölf eindrückliche Fotografien aus der „Kalkutta“-Serie von Singh, die sich seit 2017 in seiner Sammlung befinden. In der Präsentation sind sie um fünf Fotografien von Henri Cartier-Bresson ergänzt, die dieser während seiner Indien-Reise 1947 aufnahm. Die Zitate aus der Einführung von R.P. Gupta zur Publikation Calcutta. The Home and the Street von 1988 sowie aus Singhs einführendem Text zu River of Colour: The India of Raghubir Singh von 1998 kommentieren seine Aufnahmen sowie diejenigen Cartier-Bressons und verdeutlichen seine fotografische Haltung.

Raghubir Singh begann in den 1960er Jahren als Fotojournalist für indische und internationale Publikationen zu arbeiten wie National Geographic, Life, Time und New York Times. Bereits als Schulkind entdeckte er Henri Cartier-Bressons Fotobuch Beautiful Jaipur. 1966 begegnete er Cartier-Bresson, der einen wichtigen Einfluss auf seine Arbeitsweise hatte, erstmals persönlich. Wie diesem ging es auch Singh darum, die Momenthaftigkeit des Augenblicks mit kompositorischer Strenge zu verbinden. Anders als sein Vorbild entschied er sich aber sehr früh für die Farbfotografie. In seinem grundlegenden Text „River of Colour: An Indian View“ erläutert Singh 1998, inwieweit die Wertschätzung der Farbe in der indischen Ästhetik und Kulturgeschichte begründet liegt und die Ablehnung der Farbfotografie als vulgär (Walker Evans) im westlichen Wertesystem verankert ist. So verdeutlicht Singh, dass Rasa – der nicht in Worte zu fassende mentale Zustand der Erfüllung bei der Betrachtung eines gelungenen Kunstwerkes - auf eine Kunstrezeption zielt, die sich wesentlich auf die Farbigkeit und der damit assoziierten Stimmungen bezieht. Zugleich stehe das Sehen nicht wie in der westlichen Tradition für eine distanzierte Wahrnehmung, sondern für eine, bei der die Sensualität des Tastsinns und Gemeinsinns enthalten ist. Es war nicht Singhs Interesse, mit der Farbfotografie einen neuen Stil als Antwort auf die modernistische Fotografie eines Cartier-Bresson, Andre Kertesz‘ oder auch Lee Friedlander zu begründen. Vielmehr wollte er die Fotografie aus indischer Perspektive prägen. „Western modernism in photography will in time be broadened, by non-Western artists through a fine disregard of the philosophical stance of the West and of the related rules of the game”, so Singhs Überzeugung.

In diesem Sinne entwickelte Singh um 1980 eine fotografische Haltung, die die Merkmale der Street photography, wie Schnappschussästhetik und ungewöhnliche Bildausschnitte, einsetzte, ohne sich jedoch von den gewählten Sujets als „entfremdete und verworfene“ – so Singh – zu distanzieren. Die Intensität der Farbfotografien von Singh beruht wesentlich auf seiner Fähigkeit, der modernistischen Fotografie in diesem Sinne eine neue Wendung zu geben.

Singh nutzte den Ausschnitt, um Alltagssituationen im öffentlichen Raum als verdichtete Ereignisse zu vermitteln, wie zum Beispiel eine Auseinandersetzung im Straßenverkehr oder der Handel vor der Börse. Auf einer Aufnahme von Gläubigen, die das Durga Puja Fest im Kali Tempel Komplex feiern, ist ein Auto zentral ins Bild gesetzt; es wird dadurch gleichbedeutend mit der religiösen Szene und nimmt ihr die Zeitlosigkeit. In der Aufnahme eines Zigaretten- und Teeladens entsteht durch eine Trennwand und einen eingezogenen Boden eine Bild-im Bildkonstruktion, die zur genauen Betrachtung der Fotografie herausfordert.

In vielen Fotografien bringt Singh Alt und Neu, Geschichte und Jetztzeit in ein spannungsvolles Verhältnis, so zum Beispiel in der Aufnahme des Innenhofs eines herrschaftlichen Gebäudes, in der die alte koloniale Welt korinthischer Säulen und einer neoklassizistischen Venusdarstellung mit Rindern, Hühnern und Katze belebt ist.

Die Fotografien der „Kalkutta“-Serie vermitteln Singhs genaue Kenntnis der Metropole und ihrer langen Geschichte, die von der sogenannten bengalischen Renaissance geprägt war – einer Reformbewegung Intellektueller Anfang des 19 Jahrhunderts, die kulturellen, sozialen und politischen Wandel initiierten. Zu ihnen gehörte der Dichter, Musiker und Philosoph Rabindranath Tagore, dem Singh in Fotografien wie dem ehemaligen Musikzimmer im Hause der Gosh-Familie Tribut zollt. Eine andere Fotografie zeigt zwei Hausangestellte, die getrennt von den anderen Gästen einem Konzert von Tagore-Liedern lauschen. Von Singhs Porträts aus der „Kalkutta“-Serie ist eine Aufnahme des Filmemachers Satyajit Ray ausgestellt. Singh sah in dessen Filmen ein Vorbild für die gelungene Weiterentwicklung der Verbindung von Ost und West, wie sie bereits in der bengalischen Renaissance angelegt war.

Raghubir Singh hat 13 Fotobücher veröffentlicht und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Werke von Singh befinden sich beispielsweise im Metropolitan Museum of Art, Museum of Modern Art und dem Art Institute Chicago.

Kuratorin: Barbara Engelbach

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