Bild und Gegenbild: Zur Revision der Sammlung

Bild und Gegenbild
Zur Revision der Sammlung

2. Novem­ber 2019 – 29. März 2020

Otto Muellers Zwei Zigeunerinnen** mit Katze (1926/27) gehört zu den bekanntesten Gemälden in der Sammlung des Museum Ludwig. In ihm wird ein Blick eingenommen, den westliche Gesellschaften über Jahrhunderte eingeübt haben: der Blick auf Sintizze und Romnja als das schlechthin Andere, exotisch Weibliche, animalisch Aufreizende, das der Zivilisation gegenüber gestellt ist und von ihren Errungenschaften so wenig weiß wie von ihren Zwängen. Dieser Blick – und der Blick heutiger Betrachter*innen auf das Bild – hat eine gewisse Unschuld auch deshalb bewahren können, weil Muellers Kunst von den Nazis verfemt wurde und der deutsche Völkermord an den Sinti*zze und Rom*nja Muellers wohlmeinende Exotisierung vergleichsweise harmlos erscheinen ließ.

Mit einer neuen Präsentation in der Dauerausstellung durchkreuzte das Museum Ludwig diesen Blick und nahm ihm seine vermeintliche Unschuld. Vom 2. November 2019 bis zum 29. März 2020 wird gegenüber von Muellers Werk der Dokumentarfilm Zigeuner** sein (SE 1970, 47 Min.) von Peter und Zsóka Nestler installiert sein. Wie viele Filme Peter Nestlers geht auch dieser von bildender Kunst aus: von Werken Otto Pankoks, eines Zeitgenossen von Otto Mueller, der das harte Leben von Sinti*zze und Rom*nja in unzähligen Kohlezeichnungen festgehalten hat. Die Nestlers greifen diesen Impuls auf. In langen Einstellungen lassen sie Überlebende des Völkermordes und ihre Angehörigen zu Wort kommen und leiten deren aktuelles Elend von der 600-jährigen Geschichte der Verfolgung und gesellschaftlichen Isolierung her, die in den Vernichtungslagern kulminierte. Der Film ist eine ebenso nüchterne wie bestürzende Bestandsaufnahme der Situation der Sinti*zze und Rom*nja im postnazistischen Europa.

In der Gegenüberstellung von Bild und Film wird erprobt, wie der Blick auf Kunst um historische, soziale und politische Aspekte erweitert werden kann, ohne ausschließlich auf kunsthistorische Erklärungsmuster oder biografische Angaben zum Künstler zurückzugreifen. Es soll von der Darstellung ausgegangen werden, von den Bildern, ihrer Wirkung und ihrem Gebrauch. Die Konfrontation von Bild und Gegenbild eröffnet einen Raum, in dem Fragen nach Repräsentation, Erfahrung, Definitionsmacht und Verantwortung aufkommen können.

Über Peter Nestler

Peter Nestler, geboren 1937 in Freiburg, ist einer der einflussreichsten Dokumentarfilmer unserer Zeit. Sein Werk wird international hochgeschätzt (der Regisseur Jean-Marie Straub nannte Nestler den wichtigsten Filmemacher in Nachkriegsdeutschland). Hierzulande ist es noch immer wenig bekannt. Das liegt auch daran, dass Nestler 1966 nach Schweden auswanderte: Nach seinem Film Von Griechenland, der den Weg in die Militärdiktatur zwei Jahre, bevor sie errichtet wurde, vorzeichnete, gab ihm das westdeutsche Fernsehen keine Aufträge mehr. Er arbeitete seitdem für das schwedische Fernsehen. Viele seiner Filme sind in Zusammenarbeit mit seiner Frau Zsóka entstanden.

**Diese rassistische Fremdbezeichnung vermittelt seit Jahrhunderten negative und exotisierende Stereotype. Sie ist untrennbar verbunden mit der Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung und Ermordung von Sinti*zze und Rom*nja und schreibt ein diskriminierendes Menschenbild fort. Dennoch belassen wir sie im Werktitel. Als Museum können wir Werke nicht ändern – eine rassistische Darstellung so wenig wie einen rassistischen Titel. Wir können auf die soziale Gewalt und Unterdrückung, die Kunstwerke spiegeln oder selbst betreiben, hinweisen und sie in der Präsentation sichtbar machen.

Peter und Zsóka Nestler setzen die Bezeichnung 1970 bewusst, um die Gewalt aufzudecken, die darin steckt. Ihr Film beginnt mit den Worten: "Die wir 'Zigeuner' nennen, bezeichnen sich als 'Roma', das heißt 'Menschen'. Viele von ihnen bekommen Angst, wenn sie das Wort 'Zigeuner' hören. Sie fürchten, alles könne sich wiederholen."