Sammlung Gegenwartskunst

John Dewey, Who?
Neupräsentation der Sammlung für Gegenwartskunst

Die Samm­lung des Mu­se­um Lud­wig um­fasst die wichtig­sten Po­si­tio­nen der Kunst des 20. Jahrhun­derts und der Ge­gen­wart­skunst. Die Werke der Klas­sischen Mod­erne und der Kunst nach 1945 bis 1970 sind chro­nol­o­gisch vom oberen zum mittleren Stock­w­erk ge­ord­net. Die Ge­gen­wart­skunst im Trep­pen­haus­bereich und im Un­terges­choss bildet das Rück­grat und Fun­da­ment des Haus­es, von der in die Ver­gan­gen­heit und in die Zukunft ge­blickt wird. Dabei ver­mit­telt die Samm­lung die vielfälti­gen me­dialen und konzeptuellen Er­schei­n­ungs­for­men der Ge­gen­wart­skunst, die keinem fest­ge­fügten Kanon fol­gen und sich nicht in Stil­rich­tun­gen ei­nord­nen lassen.

Um die große Spann­breite und in­haltliche Di­ver­sität der Samm­lung Ge­gen­wart­skunst am Mu­se­um Lud­wig zu ver­mit­teln, wird die Präsen­ta­tion im Un­terges­choss ca. alle 2 Jahre gewech­selt. Seit dem 20. Au­gust 2020 zeigt das Mu­se­um Lud­wig im Un­terges­choss zum drit­ten Mal eine Ne­upräsen­ta­tion sein­er Samm­lung von Ge­gen­wart­skunst. Es sind et­wa 50 Ar­beit­en von 34 Kün­stler*in­nen in allen Me­di­en – Malerei, In­s­tal­la­tion, Skulp­tur, Fo­to­gra­fie, Video und Pa­pierar­beit­en zu se­hen. 

In den bish­eri­gen Präsen­ta­tio­nen der Ge­gen­wart­skunst waren einzelne Kunst­w­erke wie A Book from the Sky (1987-91) von Xu Bing und Build­ing a Na­tion (2006) von Jim­mie Durham Aus­gangspunkt für Fragestel­lun­gen, die die Auswahl der Werke bes­timmten. Die­s­es Mal di­e­nen die Philo­so­phie des US-Amerikan­ers John Dewey (1859-1952) und sein in­ter­na­tio­naler, bis heute erkenn­bar­er Ein­fluss im Bereich der Kun­sterzie­hung und Kun­stver­mittlung als Folie, vor der die Samm­lung be­trachtet wird. Am Beispiel aus­gewähl­ter Werke wer­den die grundle­gen­den The­men des Ver­hält­niss­es von Kunst und Ge­sellschaft sowie von Kun­st­pro­duk­tion und -rezep­tion ange­sprochen.

Deweys Überzeu­gung, dass Kunst eine große ge­sellschaftliche Be­deu­tung zukommt, liegt auch dem Auf­trag zu­grunde, den sich das Mu­se­um Lud­wig für seine Ar­beit gibt: Das Mu­se­um Lud­wig ist ein lebendi­ger Ort des Zusam­men­tr­ef­fens und Aus­tausch­es. Es spricht ein Pub­likum an, das so vielfältig und vielzäh­lig ist wie die Kunst, die es be­her­bergt.

Teil der aktuellen Ausstel­lung der Ge­gen­wart­skunst ist eine Archivpräsen­ta­tion, die John Deweys Leben und Wirken vorstellt sowie seine Ein­flusssphären nachzeich­net. Zu­dem wur­den die aus­gestell­ten Kün­stler*in­nen zu ihrem Kun­st­s­tudi­um und -lehre be­fragt: Was haben sie in ihr­er Zeit als Stu­dent*in­nen an ein­er Kun­sthoch­schule oder im Kun­st­s­tudi­um über das kün­st­lerische Ar­beit­en und das Kün­stler*in­nen-Sein gel­ernt? In­wieweit hat es ihre kün­st­lerische Praxis und ihr Ver­ständ­nis von Kunst bee­in­flusst? Was ver­suchen sie ihren Stu­dent*in­nen mit auf den Weg zu geben oder welche Ziele wür­den sie mit der Kun­stlehre verbin­den? Zi­tate aus den Ant­worten der Kün­stler*in­nen geben ei­nen be­son­deren Ein­blick in ihr kün­st­lerisch­es Schaf­fen.

John Deweys Denken und Wirken in­spiri­ert auf ver­schie­de­nen Ebe­nen die Auswahl der Werke in der Ne­upräsen­ta­tion: Auf welch un­ter­schiedliche Weise sind in­di­vi­du­elle wie ge­sellschaftliche Er­fahrung in den Werken verdichtet? In welch­er Form neh­men sie aus­drück­lich oder ver­mit­telt auf ge­sellschaftliche En­twick­lun­gen Bezug? Welche vielfälti­gen Möglichkeit­en bi­eten sie, die Be­such­er*in­nen einzubezie­hen?

Gül­sün Kara­musta­fa macht bere­its mit dem Ti­tel ihr­er Ar­beit Pre­sen­ta­tion of an Ear­ly Rep­re­sen­ta­tion von 1996 deut­lich, dass es ihr um die vielschichti­gen Ebe­nen der Kun­stver­mittlung und -be­trach­tung ge­ht. In ein­er groß­for­mati­gen Re­pro­duk­tion zeigt sie ein ori­en­tal­is­tisch­es Mo­tiv aus dem 16. Jahrhun­dert nach den Schilderun­gen eines eu­ropäischen Reisen­den: Frauen in eu­ropäisch­er Klei­dung bzw. un­bek­lei­det wer­den von Män­n­ern wie Ware auf einem Basar be­han­delt. Kara­musta­fa kon­fron­tiert das Bild mit Fra­gen, die an sie als Kün­st­lerin aus Is­tan­bul häu­fig herange­tra­gen wer­den und die un­ter­sch­wel­lige An­nah­men und Wer­turteile tran­s­portieren.

Kunst ist Er­fahrung und führt in der Au­sei­nan­derset­zung mit ihr zu neuen Er­fahrun­gen: Was Kara­musta­fas Werk re­flek­tiert, ent­spricht auch John Deweys Cre­do. Für ihn spielte Kunst eine be­deu­tende Rolle in der Bil­dung, weil in kün­st­lerischen Werken die vielfälti­gen ge­sellschaftlichen Ver­hält­nisse auf un­ter­schiedlich­ste Weise ver­mit­telt sind. Auch Tr­isha Ba­gas Mol­lus­ca & The Pelvic Floor von 2018 ist ein Beispiel hi­er­für. Die Be­such­er*in­nen kön­nen mit allen Sin­nen in eine Mul­ti­me­di­ain­s­tal­la­tion ein­tauchen, die in eine sizilianische Grotte, durch das höh­le­nartig zugestellte Ate­li­er der Kün­st­lerin, auf die Philip­pi­nen oder in die Weite des Kos­mos führt. Aus­ge­hend von ihren per­sön­lichen Er­leb­nis­sen und Er­fahrun­gen the­ma­tisiert Ba­ga grund­sät­zliche Fra­gen zum Beispiel zum Ver­hält­nis von Kör­p­er und Tech­nik und lässt diese in der In­s­tal­la­tion er­leb­bar wer­den.

Ein weit­eres Beispiel bi­etet Ju­lia Sch­ers In­s­tal­la­tion Se­cu­ri­ty by Ju­lia X von 1991 – ein fin­giert­er Überwachungsschal­ter mit Kam­eras und Mon­i­toren. Sch­er bezie­ht die Be­such­er*in­nen in ihre In­s­tal­la­tion ein, in­dem sie sie von Überwachungskam­eras aufzeich­nen lässt und die Bilder zeit­gleich auf den Mon­i­toren auss­trahlt. Seit Mitte der 1980er Jahre set­zt sich Ju­lia Sch­er in­ten­siv mit der Überwachung­stech­nolo­gie au­sei­nan­der. Sie beschäftigt die psy­chol­o­gischen und ge­sellschaft­spoli­tischen Auswirkun­gen der heute verin­n­er­licht­en Überwachungskul­tur.

Dewey ging davon aus, dass eine vielfältige Umge­bung Men­schen im­mer wied­er neu her­aus­fordert und zur Weit­er­en­twick­lung be­wegt. Darin sah er die Vo­raus­set­zung für aufgek­lärte, selb­st­be­wusste In­di­vi­duen, die sich als Teil demokratisch­er Prozesse in ein­er plu­ral­is­tischen Ge­sellschaft ver­ste­hen. Weil Kunst selbst verdichtete ge­sellschaftliche Er­fahrung ist, kommt ihr ein wichtiger Bil­dungsauf­trag zu. Kün­stler wie Os­car Muril­lo be­to­nen aus die­sem Grund die Be­deu­tung, die Deweys Schriften für ihr Werk haben. Die In­s­tal­la­tion Col­lec­tive Con­s­cience (seit 2015 fort­laufend) ap­pel­liert an die ge­mein­same Ve­r­ant­wor­tung, und dies auf un­mit­tel­bare, sinn­liche Weise: Die tribü­ne­nartige Holzkon­struk­tion bi­etet nicht nur lebens­großen Pup­pen in Ar­beit­sk­lei­dung als Sitzmöglichkeit, son­dern lädt auch Be­such­er*in­nen ein, sich nied­erzu­lassen. In die­sem Au­gen­blick ver­voll­ständi­gen sie dann das Bild, das für ein kollek­tives Gewis­sen und für Soli­dar­ität ste­ht.

Als prag­ma­tisch­er Philo­soph, der sein Denken auf die ge­sellschaftlichen Ef­fekte sein­er Philo­so­phie aus­richtete, galt John Deweys Au­gen­merk von Be­ginn an der Erzie­hung. In sei­nen Schriften Demokratie und Erzie­hung (1916) und in Kunst als Er­fahrung (1934) ist die zen­trale Rolle der Kunst for­muliert. Dewey ist nicht nur als Mit­be­grün­der der New School for So­cial Re­search in New York bekan­nt. Vor allem im Bereich der Kun­sterzie­hung reicht sein Ein­fluss vom Black Moun­tain Col­lege zum Cal­i­for­nia In­sti­tute of the Arts bis hin zum Whit­ney In­de­pen­dent Study Pro­gram. Deweys Wirken hin­ter­ließ darüber hi­naus durch seine Reisen und Aus­land­saufen­thalte weltweit Spuren. Er hielt sich zwischen 1919 und 1921 drei Mo­nate in Ja­pan und zwei Jahre in Chi­na auf. 1924 wurde er neben fünf weit­eren in­ter­na­tio­nalen Wis­sen­schaftler*in­nen von der 1923 neuge­grün­de­ten Türkischen Re­pub­lik beauf­tragt, Empfeh­lun­gen für eine um­fassende Bil­dungs­re­form zu for­mulieren, weswe­gen er drei Mo­nate lang das Land bereiste. Auch die Sow­je­tu­nion lernte er 1928 ken­nen. Weniger bekan­nt ist seine Be­deu­tung für die Re-Ed­u­ca­tion in West­deutsch­land nach 1945, ein­er von den Al­liierten ini­tiierten demokratischen Bil­dungsar­beit im Kon­text der Ent­naz­i­fizierung, sowie für die Re­for­men der Grund­schulen in der al­ten Bun­des­re­pub­lik.

Kün­stler*in­nen: Kai Al­thoff, Ei Arakawa, Ed­gar Arce­neaux, Tr­isha Ba­ga, John Baldes­sari, An­drea Bütt­n­er, Erik Bu­la­tov, Tom Burr, Michael Buthe, John Cage, Miri­am Cahn, Fang Li­jun, Ter­ry Fox, An­drea Fras­er, Dan Gra­ham, Lubai­na Himid, Huang Yong Ping, Al­lan Kaprow, Gül­sün Kara­musta­fa, Martin Kip­pen­berg­er, Jut­ta Koether, Maria Lass­nig, Jochen Lem­pert, Sarah Lu­cas, Os­car Muril­lo, Ker­ry James Mar­shall, Park McArthur, Mar­cel Oden­bach, Ro­man On­dak, Ju­lia Sch­er, Av­ery Singer, Di­a­mond Stingi­ly, Rose­marie Trock­el, Car­rie Mae Weems, Josef Zehr­er

Die Ne­upräsen­ta­tion der Ge­gen­wart­skunst wird ge­fördert durch die Ge­sellschaft für Mod­erne Kunst am Mu­se­um Lud­wig.

Ku­ra­torin­nen: Dr. Bar­bara En­gel­bach und Jan­ice Mitchell


Zur Ne­upräsen­ta­tion der Samm­lung kom­mu­niziert das Mu­se­um Lud­wig auf sei­nen So­cial-Me­dia-Kanälen mit dem Hash­tag #ne­uprae­sen­ta­tion Face­book/In­s­ta­gram/Twit­ter/Vimeo: @Mu­se­um­Lud­wig – www.mu­se­um-lud­wig.de